Seiner Zeit voraus

Als er das Angebot Nummer 1082 in den Listen des Auktionshauses Automobilia Ladenburg sah, traf es Eckhart Bartels wie ein Blitz: Es gibt nicht viele Menschen, die beim Anblick der acht unscheinbaren Schwarz-Weiß-Aufnahmen erkannt hätten, welche Sensation sich dahinter verbirgt. Doch der Opel-Experte verständigte umgehend den Opel Classic-Chef Leif Rohwedder, der die Fotos wenig später ersteigerte. Die acht Aufnahmen – sie zeigen einen als Frontlenker gestalteten Klein-Transporter.

Mit Bleistift ist auf der Rückseite neben dem damaligen Stempel der Opel-Fotoabteilung der Projektname vermerkt: 1.5-23 COE. Seit Jahren schon war Eckhart Bartels eine Skizze davon bekannt. „Dass von dem Modell bereits ein fahrfähiges Versuchsfahrzeug existierte, hätte ich mir nicht träumen lassen“, sagt der Automobil-Historiker, der auch für die Opel-Jahrbücher verantwortlich zeichnet. Für den Opel Classic-Chef Leif Rohwedder ist die Entdeckung nicht mehr und nicht weniger als ein „automobilhistorischer Paukenschlag“. Verschiedene Medien haben den Fund gar als Sensation bezeichnet. Weshalb?

1 Die hinten angeschlagene Autotür, die so genannte Selbstmördertür, macht das Ein- und Aussteigen sehr bequem.

2 Der Scheibenwischer ist oben am Scheibenrahmen befestigt. Der Seitenspiegel ist weit ausladend.

3 Den Namen Opel Blitz trugen ab den 1930er-Jahren Transporter und Lastwagen. Art Déco-Elemente zieren die Front.

4 Die Stoßstange ragt hervor, dahinter sind für Fahrer und Beifahrer Trittstufen angebracht.

5 Die in Wagenfarbe lackierten Radkappen tragen einen Opel-Schriftzug. Die Reifen stammen von Continental, Typ Aero.

6 Über dem Halter für das Nummernschild befindet sich das Bremslicht und das Rücklicht mit der Beleuchtung für das Nummernschild.

7 Das Reserverad wird in einem separaten Fach unter der Ladefläche gelagert.

„Dass ein fahrfähiges Versuchsfahrzeug existierte, hätte ich mir nicht träumen lassen.“

Eckhart Bartels

„Traumhaft modern“, weil das Konzept, auf dem diese Opel-Blitz-Variante basiert, für die damalige Zeit – Mitte der 1930er Jahre – revolutionär war: ein Transporter ohne Fronthaube, ausgestattet mit einem neu entwickelten 1,5 Liter-Vierzylinder, der unter dem Fahrgastraum brummte – daher das Kürzel COE, „Cab over Engine“. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren solche Transporter nur in den USA, Deutschland und Frankreich in kleinen Stückzahlen versuchsweise auf dem Markt. Und obwohl „Transporter“, wog das Fahrzeug lediglich tausend Kilo und wies nur 2,40 Meter Radstand auf. Das machte ihn kompakt und wendig, und dennoch bot er im Rahmen seiner Abmessungen maximalen Raum für Passagiere und Ladung.

Auf verborgenen Pfaden

Wie bei solchen Auktionen üblich, blieb der Anbieter anonym. Daher wird man nie zurückverfolgen können, wie die Aufnahmen die Technische Dokumentation in Rüsselsheim verlassen haben und welchen Weg sie anschließend nahmen. In den Kriegswirren, in denen wohl auch der Prototyp zerstört wurde, könnten die Bilder in private Hände gelangt sein. Bis sie ein Nachfahre entdeckte – „oder auch die Reinigungskraft, hab‘ ich alles schon erlebt“, sagt Bartels.

Die inneren Werte: Der 1,5-Liter-Vierzylinder stammt vom Opel Olympia 1938.

Die Spurensuche war damit aber noch nicht abgeschlossen. Mit den Fotos in den Händen krempelte das Opel Classic-Team in Rüsselsheim das Unternehmensarchiv um, ob da nicht doch noch was war, was auf die Existenz des verloren gegangenen Opel-Modells hinwies. Und tatsächlich: Es fand sich ein Vorstandsprotokoll aus dem Oktober 1937, in dem das Projekt erwähnt wurde. Und eine englischsprachige Informationsbroschüre aus der gleichen Zeit, aus der hervorgeht, dass es sogar noch eine weitere Variante des Fahrzeugs geben sollte: Ein 1,5 Tonner mit Sechszylinder-Motor und Zwillingsbereifung.

Fortschrittliches Konzept

Entdecker Eckhart Bartels erfreut sich an den vielen Details, die die Aufnahmen offenbaren. So gestalteten die Ingenieure und Designer die Karosserie des Frontlenker-Blitz schnörkellos und funktional. Ein in den Grundzügen stromlinienförmiges Design und die großen glatten Flächen unterstreichen die Modernität des Konzepts. Die schwarz abgesetzten Kotflügel sind eine Referenz an die bestehenden Opel-Nutzfahrzeuge und sorgen für einen optisch homogenen Auftritt der Modellpalette. Seinen progressiven Charakter erhält der Wagen durch die markante Front mit Art-Déco-Zierelementen. Sie betonen ausnahmslos die Horizontale und verleihen dem Nutzfahrzeug ein modernes und freundliches Gesicht. „Ein Lieferwagen mit Sympathie-Faktor – damals ein völlig ungewohnter Anblick“, sagt der Entdecker der Aufnahmen.

Schnörkellos und funktional: Das stromlinienförmige Design und die großen glatten Flächen unterstreichen die Modernität des Konzepts.

IM MASSTAB 1:43
Die Verantwortlichen bei Opel Classic haben vom Prototyp des frühen Kleintransporters ein Miniaturmodell anfertigen lassen – maßstabsgetreu und in den Farben der damaligen Zeit. So soll der Transporter im Miniformat ganz plastisch noch heute daran erinnern, was er im eigentlichen Sinne ist – der Urahn moderner Nutzfahrzeuge, mit dem alles seinen Anfang nahm. Inzwischen gibt es das Modell im Maßstab 1:43 auch im Online-Shop des Modellauto-Anbieters „Autopioneer“.

Die inneren Werte des Transporters fußen auf der langjährigen Erfahrung Opels. Die Rüsselsheimer Ingenieure können seinerzeit auf Komponenten aus anderen Modellen zurückgreifen – etwa den brandneuen 1,5-Liter-Vierzylinder des Olympia oder die Achsen des bewährten Blitz-Eintonners. Die Karosserie ist – von Trennwand, Ladeboden und einem Teil des Dachs abgesehen – in fortschrittlicher Ganzstahl-Bauweise ausgeführt.„Interessant wäre es zu wissen, wie die Opel-Ingenieure die Herausforderungen an Lärmschutz und Wärmeisolation meisterten, die ein Konzept mit einem Motor unter dem Fahrgastraum stellt“, erklärt Bartels. Doch Versuchsberichte existieren leider nicht mehr. Doch müssen mit dem Prototyp intensive Testfahrten unternommen worden sein, denn die Fotos zeigen – obwohl retuschiert – deutliche Gebrauchsspuren, etwa einen Knick in der Stoßstange oder Kratzer am Kotflügel.

Es bleibt beim Prototyp

Wieso das Projekt nie verwirklicht wurde? Auch dazu lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Die plausibelste: Die deutschen Kriegsvorbereitungen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verhinderten es. Leichte Nutzfahrzeuge waren als nicht kriegswichtig eingestuft, Opel musste mit einer erzwungenen Einstellung des Fahrzeugs rechnen. Der seit 1934 angebotene Blitz-Eintonner mit Haube wird dann auch 1940 auf Anweisung vom Markt genommen. Die Wiederaufnahme der Fahrzeugproduktion in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre erfolgt mit den nur leicht modifizierten Vorkriegsmodellen Olympia, Kapitän und Blitz 1,5-Tonner. Und ab den 1950er Jahren konzentriert sich Opel dann erfolgreich auf die Entwicklung von Personenwagen und setzt hier zunächst die unternehmerischen Schwerpunkte.

Die jetzt aufgetauchten acht historischen Aufnahmen zeigen einen wegweisend designten kompakten Opel Blitz-Transporter, der fertig entwickelt und fahrbereit ist. Nach intensiver Suche fand sich im Opel-Archiv ein weiteres Dokument, in dem das Fahrzeug Erwähnung findet: eine englischsprachige Informationsbroschüre für das Modelljahr 1938.

Kompakt, modern – elektrisch

Doch auch das Angebot an Lieferwagen entwickelt Opel parallel dazu kontinuierlich weiter, das schließlich im heute erfolgreichen Nutzfahrzeugtrio aus kompaktem Opel Combo, dem Allrounder Opel Vivaro sowie dem Größten im Bunde, dem Opel Movano, mündet. Hier ist Opel wieder einmal Vorreiter. Denn schon heute ist die gesamte Nutzfahrzeugpalette mit dem Blitz batterie-elektrisch erhältlich. Nicht nur das: Mit dem Vivaro-e HYDROGEN haben die Ingenieure einen Wasserstoff-Brennstoffzellen-Transporter entwickelt, der in nur drei Minuten betankt werden kann.


Oktober 2022

Text: Eric Scherer, Fotos: Opel