Wenn aus Tradition Kult wird

Es gibt unzählige Filme über jugendliche Gangs – ob mit James Dean, Marlon Brando oder Matt Dillon. Einen über Heiko Lendle und die „Massemer“ hat noch niemand gedreht. Noch nicht. Denn was wäre es für eine wunderbare Szene: 30 „Muscle Cars“, alles Opel, fahren röhrend vor dem „Big Apple“ vor, Wiesbadens sagenumwobenem Kult-Club der Achtziger. Und bei allen ist das Heck in die Höhe gebockt. So hoch, dass jeder TÜV-Ingenieur beim Anblick Schnappatmung bekäme. Für dieses spezielle Tuning sorgte eine Niveauregulierung, ein Pneumatiksystem an der Hinterachse. Die ist eigentlich für Pkw gedacht, die einen Wohnwagen ziehen sollen. „Wer immer auf die Idee gekommen ist, so etwas in unsere Autos einzubauen – er war ein Genie“, ist Heiko Lendle überzeugt.

Besonderes Merkmal:
Aufgebockte Hinterachse

Er, der Wiesbadener, wurde von den Jungs aus dem Hochheimer Stadtteil Massenheim voll akzeptiert. Und war in den 80er-Jahren immer mittendrin mit seinem dunkelblauen Opel Commodore GS/E. „180 PS hatte der, das ist auch heute noch viel, damals aber war es ungeheuerlich“, erinnert sich der inzwischen 57-Jährige. Wegen des einzigartigen Fahrkomforts, den die aufgebockte Hinterachse bescherte, hatten bei ihm alle immer hinten sitzen wollen – „da saß man nur waagrecht, wenn ich die Bierstadter Höhe hinaufjagte.“ Er war damals noch Berufsschüler. Angeschafft hatte er sich seinen „Commo“ mit dem ersten Geld, dass er sich mit Plattenauflegen verdient hatte. Und mit T-Shirts, die er mit hessischen Lebensweisheiten versah, etwa dem Credo seines Vaters: „Vergiss nie, wo de herkimmst.“

„Ungeheuerliche 180 PS“: Heiko Lendles erster Opel – ein Commodore GS/E.
Denn sie wissen, was sie tun: Mit dem Opel Admiral kultivierten Heiko Lendle (vorne rechts) und seine Jungs Mitte der 80er-Jahre den „American Way of Drive“ auf hessischen Straßen.

Ausdrucksstarkes Gefährt mit Stil

Mit seinen „Vince Shirts“ eroberte Heiko Lendle später Modemessen, seine „Benziner Clubwear“ war vor allem in der Technoclub-Szene gefragt. Seine Shirts sind mittlerweile hessisches Kulturgut, so wie ihr Schöpfer. Heiko Lendle ist heute außerdem Geschäftsführer einer Werbeagentur, er vertreibt die Äppelwoi-Marke „Holy Ebbler“ und verkauft Schankanlagen. „Multi-Unternehmer“ könnte man ihn nennen, wenn das in seinen Ohren nicht zu abgehoben klingen würde.

Von seinem „Commi“ hatte sich der Wiesbadener getrennt als sein Maschinenbau-Studium begann. „Ich dachte, da kann ich nicht mit so einem Schlitten daherkommen.“ Bald schon aber sah er sich aber eines Besseren belehrt. „Ich verdiente gut mit meinen Musikkassetten und meinen T-Shirts, warum also sollte ich weiter studieren? Also entschloss ich mich, weiter meine Geschäfte zu machen.“ Und sich ein neues, ausdrucksstarkes Gefährt zuzulegen. Aber nichts Gewöhnliches, sondern eines mit Stil.

„Wer auch immer auf die
Pneumatik-Idee gekommen
ist – er war ein Genie.“

Abgehoben: Die Pneumatikhydraulik an der Hinterachse sorgt dafür, das Fahrzeugniveau bei verschiedenen Beladungszuständen konstant zu halten. Oder aber für einen großen Auftritt.
Viel Grill, viel Chrom: Zusammen mit dem Opel Kapitän und dem Opel Diplomat bildete der Admiral das legendäre Opel KAD-Trio, das ab 1964 zum Angriff auf die Oberklasse blies.

Heiko Lendles
Opel Admiral


Baujahr: 1966
Motor: 2,5 Liter Otto-Motor
(aus einem Commodore C)
Leistung: 85 kw/115 PS
Höchstgeschwindigkeit: 165 km/h
Leergewicht: 1.350 Kilo
zulässige Gesamtgewicht: 1.850 Kilo


So erstand Heiko Lendle vor 36 Jahren einen reichlich restaurationsbedürftigen Opel Admiral A. Mit Baujahr 1966 war das Gefährt schon damals 20 Jahre alt, aber breit und mit reichlich Chromzierrat ausgestattet. Der Opel-Liebhaber baute den herrschaftlichen Wagen neu auf, setzte ihm die 2,5 Liter-Maschine eines Commodore C ein und lackierte ihn mintgrün, den Farben seiner ersten Firma. Und natürlich hat er auch ihm auch wieder eine Niveauregulierung verpasst, damit das Heck auf Knopfdruck steil gehen kann. „Wenn mich die Polizei deswegen anhielt, habe ich gesagt, ich hätte kurz zuvor noch einen Wohnwagen gezogen und vergessen, ihn wieder hinunterzulassen“, erzählt er. Die Beamten hätten das zwar nicht wirklich geglaubt, hätten aber eigentlich immer Fünfe gerade sein lassen, erinnert sich der Wiesbadener. Legendäre Zeiten. Mit den Jahren hat Heiko Lendle begonnen, langsamer zu machen. Weniger Party und weniger Business, dafür aber mehr Familie. Dem Admiral – Lendle nennt ihn „Addi“ – ist er auch als Familienvater zweier Töchter treu geblieben. Und erfährt ihn heute noch. Als Firmenwagen. Seit 2020 ziert die Karosserie den Schriftzug seines aktuellen Labels „Bembel-Mafia“.

„Addi“, der Zuverlässige

Noch lieber aber fährt er ihn privat, vor allem im Sommer. „Mein bestes Stück, neben meiner Frau Susanne natürlich.“ Beide weisen übrigens das gleiche Baujahr 1966 auf – „ein hervorragender Jahrgang“ also. Und beide haben ihn nie im Stich gelassen, „obwohl ich mir einige Verrücktheiten geleistet habe.“ Im „Addi“ hat er seine Susanne auch stilecht geheiratet. In all den Jahren habe er „keine 2.000 Euro“ in den Opel stecken müssen, „Rüsselsheimer Wertarbeit halt.“ Unlängst hat das Getriebe gemuckt, in der Werkstatt hatte niemand so richtig einen Plan, was zu tun war – „also habe ich die Lenkradschaltung selbst wieder neu eingestellt, bin schließlich gelernter Maschinenschlosser.“

„Ich habe in all der Zeit keine 2.000 Euro ins Auto gesteckt – Rüsselsheimer Wertarbeit halt.“

Analoge Übersichtlichkeit: Die Armaturentafel mit Bandtacho, Rundinstrumenten und Kippschaltern.
Interieur à la Lendle: Fahrer und Beifahrer nehmen auf der Sitzbank eines Opel Kapitän Platz.

Sein „Commo“ aus den ganz frühen Tagen ist ihm übrigens nochmal wieder begegnet, ungefähr zehn Jahre, nachdem er ihn verkauft hatte. „Ein Bekannter bot mir einen Commodore an. Uns als ich ihn mir anschaute, fiel mir eine unscheinbare Beule auf, die keinen Zweifel daran ließ: Das war mein alter.“ 200 Mark habe sein Bekannter dafür gewollt, doch Lendle winkte ab. Ein Fehler, der ihn heute noch wurmt: „Ich hätte zuschlagen sollen, es war doch mein Traumauto.“ Unlängst sei er einem Schicksalsgefährten begegnet, dem Opel-Chefdesigner Niels Loeb: „Der erzählte mir, dass er vor Jahren diesen geilen Opel Speedster gestaltet hat, sich selbst aber nie einen zulegt hat, und dass er sich noch heute maßlos darüber ärgert – ich konnte direkt mit ihm fühlen.“

36 Jahre Spaß

Seinen „Addi“ gibt Heiko Lendle nicht mehr her. Auch wenn – oder gerade weil – er nicht so Original ist, wie Oldtimer-Puristen ihn sich wünschen. Unter anderem hat der Unternehmer ihm die durchgezogene Sitzbank eines Opel Kapitän verpasst. Dafür aber ist es „sein“ Auto: „Die 36 Jahre Spaß kann mir niemand nehmen.“ Und vor allem nicht die vielen Erinnerungen, die daran hängen. An die Zeiten mit den „Massemern“. Wie sie durch Wiesbaden gezogen sind. In Stiefeln. Mit Einheitshaarschnitt, an den Seiten rasiert, oben Pilz und Mittelscheitel. In Bomberjacken, die sie vorher gekocht hatten, damit sie eng genug saßen, um ihre damals tadellosen Figuren zu betonen, unten schmal, oben breit. Und in dem Bewusstsein, „dass wir die Welt aus den Angeln heben können.“ Es war und ist ein Lebensgefühl, das Heiko Lendle mit seinem Admiral verbindet. Oder wie es der Aufdruck auf seinem T-Shirt zusammenfasst: „History kann mer nitt kaaafe.“

„History kann mer nitt kaaafe.“

Selbst ist die Marke: Heiko Lendle ist Werber, T-Shirt-Designer und Keltererer. In Wiesbaden-Igstadt betreibt er das Kaufhaus Lendle.
„Tradition gepaart mit ein bisschen Verrücktheit“: So beschreibt er sein Geschäftsmodells – sein eher unkonventioneller Firmenwagen unterstreicht diese Philosophie.

Juli 2022

Text: Eric Scherer, Fotos: Alex Heimann