Hoch hinaus

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Teil 6: Der Personalstamm verdreifacht sich

Wohin der Weg bei Opel einen führen kann. Beispielsweise auf einen 20 Meter hohen Mast, mitten in einer kargen, von der Sonne erhitzten Felslandschaft im spanischen Andalusien. Aufrecht stehend, in Bergsteiger-Montur, an Seile gekettet. Und dann heißt es auch noch springen. Einfach so. Ins Nichts. Und auf seine gute Sicherung vertrauen.


Wild Training

Da hat der Seminarteilnehmer noch gut lachen: Von unten sieht alles ziemlich einfach aus.

 

„Selbstüberwindung“ steht auf  der Agenda des Führungskräfteseminars in Jerez de la Frontera, zu dem das Unternehmen Volker Wild entsandt hat. In der Tat: Nichts anderes ist jetzt gefragt. Von da unten sah es eigentlich gar nicht so schwer aus, als die anderen Teilnehmer gesprungen sind. Aber von da oben… Volker Wild holt erst einmal tief Luft.

IMMER BESSER, SCHNELLER, PRODUKTIVER, GRÖSSER
Herausforderungen für Wild und seine Kollegen gab es in der Pfalz in den vergangenen Jahren immer wieder. Ist ein Ziel erreicht, wird das nächste ins Auge gefasst. Besser werden, schneller, produktiver, größer.  Schließlich arbeiten sie gemeinsam an einem großen Traum: Irgendwann einmal wollen die Pfälzer in Kaiserslautern einen kompletten Opel montieren.

Und um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, ziehen alle an einem Strang. Dass sich Geschäftsleitung und Betriebsrat ansonsten nicht immer einig sind, liegt in der Natur dieser Rollenverteilung. „Aber wenn es darum ging, Arbeit nach Kaiserslautern zu holen, haben immer alle gemeinsam die Ärmel hochgekrempelt“, erinnert sich Volker Wild.

 


Zurück im Berufsalltag in Kaiserslautern: Volker Wild in seinem Büro.

 


DER NÄCHSTE COUP: EIN MOTOR FÜR DIE PFALZ
Ende der 1970er Jahre haben sie ihren nächsten großen Coup gelandet: Opel gibt bekannt, weitere sechs Milliarden D-Mark investieren zu wollen, unter anderem in ein neues Motorenwerk. Die Lauterer sehen ihre Chance und bewerben sich um diesen Auftrag. „Das Gute war: Ob Planer, Logistiker, Finanzexperte oder wer auch immer – alle haben ihr Bestes gegeben und das Angebot in allen Aspekten immer wieder nachgebessert“, erzählt Volker Wild.

Der erhoffte Zuschlag kommt – und ab 1979 rollen wieder die Bagger. Ein neue Produktionshalle für Motorenbau entsteht, das „K30“. Das Presswerk wird abermals erweitert, zählt nun 18 Pressenstraßen. Dazu kommen Schweißanlagen für Unterzusammenbauten, Türen, Hauben und Rückwandklappen sowie neue Räumlichkeiten für Sozial-, Service- und Verwaltungsdienste. Insgesamt investiert Opel rund ein Fünftel seines Sechs-Milliarden-Paketes in der Pfalz.

Die Milliarde fließt nicht nur in Motoren: Auch das Presswerk ist nochmal erweitert worden.

 

 


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Volle Ausdehnung: Der Standort Kaiserslautern im Jahr 1990.

 


Ab 1981 produziert Kaiserslautern Motoren der so genannten „Familie II“ – 1,6 Liter-Aggregate für die Mittelklasse-Modelle Kadett und Ascona, zunächst Benzin-, ein Jahr später auch Dieselvarianten. Herzstücke der Opel-Produktpalette also. „Das machte uns stolz und natürlich achteten wir auch immer darauf, dass in unseren eigenen Autos, die wir uns beim Verkauf an Mitarbeiter besorgten, ein Motor schnurrte, den wir selbst gebaut hatten“, berichtet Volker Wild. Erfahrungen im Motorenbau sammelt die Mannschaft bereits seit 1975. Im K20 entstehen Zylinderblöcke und Kurbelwellen für Zwei-Zylinder-Aggregate.

EINE NEUE HALLE UND 1500 NEUEINSTELLUNGEN – ZUNÄCHST
Für die Erweiterung muss das Personal aufgestockt werden. Zunächst sind es rund 1.500 Neueinstellungen. Natürlich werden nicht alle im K30 eingesetzt, ein Teil ersetzt die erfahrenen Mitarbeiter, die aus den bereits etablierten Fertigungsbereichen in den neuen beordert worden sind. Und diesmal werden nicht, wie 1965, Maler, Bäcker und Landwirte angeworben, sondern ausgebildete Facharbeiter. Sie stammen nicht mehr ausschließlich aus der unmittelbaren Umgebung, sondern aus ganz Rheinland-Pfalz und dem Saarland, einige kommen sogar aus dem Rhein-Main-Gebiet und der Kurpfalz.

Mit Blick fürs Detail: Maßarbeit ist an allen Arbeitsstationen angesagt.

 

 

 

Mitte der 1980er Jahre veröffentlicht die Geschäftsleitung eine exakte Erhebung: 6.630 Mitarbeiter zählt der Standort mittlerweile, der Personalbestand hat sich seit der Gründerzeit somit verdreifacht. Die Mannschaft pendelt allmorgendlich aus insgesamt 260 Gemeinden nach Kaiserslautern ein. Lediglich 1.846 Beschäftige wohnen in unmittelbarer Nähe, der größte Teil bewältigt Anfahrtsstrecken zwischen 30 und 50 Kilometern. Stolze 96 Prozent kommen mit einem Pkw, einem Opel selbstverständlich.

 


1975 waren es zunächst nur Komponenten – ab 1981 produziert Kaiserslautern komplette Motoren.

 


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Einmal Lautrer, immer Lautrer: Volker Wild lebt auch im Ruhestand noch im Herzen der Stadt.

 

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So geht „Visualisieren“: Die Mannschaft beglückwünscht Volker Wild zum 60. Geburtstag.

 

VON PFAFF ÜBER RÜSSELSHEIM IN DIE FAMILIE II
Volker Wild kommt 1981 als Gruppenleiter „Industrial Engineering“ in den neuen Motorenbau. Den Job des Zeit- und Arbeitsstudienspezialisten hat der Lautrer 1965 in Rüsselsheim gelernt. Er hatte sich aber bereits mit der Maßgabe beworben, nach Abschluss seiner Ausbildung an den neuen Opel-Standort in seiner Heimat wechseln zu wollen. Zuvor hat er im anderen großen Industrieunternehmen Lauterns erste Berufserfahrungen gesammelt, beim Nähmaschinenhersteller Pfaff.

Als Wild im K30 aktiv wird, ist er bereits in fast allen anderen Fertigungsbereichen unterwegs gewesen. Schon an seinem ersten Einsatzort im K1 hat er mit Obermeister Hans Thul zusammengearbeitet, der nun als die „rechte Hand“ des ersten Betriebsleiters der sogenannten „Familie II“-P fungiert, Horst Österling, der in den Jahren zuvor in den Nachtschichten der erste Mann am Standort war, wofür ihm der Spitzname „Nachtbomber“ zuteil geworden ist.


VON „NACHTBOMBERN“ UND STOPPUHR-TYPEN

„Mich hat es immer wahnsinnig geärgert, wenn wir Zeitstudienleute nur als diejenigen gesehen wurden, die mit Stoppuhren in der Produktion herumstehen und andere unter Druck setzen“, berichtet Volker Wild. Tatsächlich sind Männer seines Metiers nicht nur für die Dokumentation von Arbeitsabläufen zuständig, sondern auch dafür, Potenzial für Verbesserungen zu identifizieren und Ideen zur Umsetzung zu entwickeln. Das fängt bei den einzelnen Handgriffen an, die während eines Taktes an einer Arbeitsstation erledigt werden müssen.

Und gerade diese Fähigkeiten werden in den nächsten Jahren in der „Familie II“ viel bewirken. Anfang der 1980er Jahre kalkuliert das Management noch mit einer möglichen Jahresproduktion von 220.000 Motoren, zehn Jahre schaffen die Pfälzer 300.000 Einheiten per anno. Getreu ihrem Motto: Immer besser werden, schneller, produktiver, größer.

„Eine unser Spezialitäten waren die so genannten Versuche im Produktionsbereich“, erinnert sich der heute 76-Jährige. „Wenn wir eine Idee hatten, wie wir einen Ablauf verbessern konnten, haben wir keine großen bürokratischen Genehmigungsverfahren eingeleitet, sondern ein Formblatt ausgefüllt, in dem wir unser Vorhaben kurz beschrieben – und dann wurde direkt ein Pilotversuch gestartet.“ Zudem beweisen die Pfälzer einen pragmatischen Blick fürs Vereinfachen, also dem, was später „schlanke Fertigung“ genannt wird: „Als Mitte der 1990er Jahre alle im Unternehmen von Lean Management sprachen, war für uns eigentlich nur das Wort neu.“


1984: DER HÄRTESTE ARBEITSKAMPF DER GESCHICHTE
Natürlich herrscht auch in diesem Jahrzehnt nicht nur eitel Sonnenschein. 1984 erlebt die Bundesrepublik den härtesten Arbeitskampf ihrer Geschichte. Um ihre Forderung nach Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden durchzusetzen, ruft die IG Metall zum Streik auf. Daraufhin legen bundesweit 70.000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Bereits zwei Tage nach Beginn des insgesamt sieben Wochen währenden Arbeitskampfes stehen in der deutschen Automobilindustrieproduktion die Bänder still. Die Arbeitgeber reagieren mit „kalter Aussperrung“, die Streikenden erhalten nicht einmal Kurzarbeitergeld. In Kaiserslautern sind 4.400 Beschäftigte wochenlang ohne Lohn. Am Ende steht ein Kompromiss: Die Tarifpartner einigen sich auf eine Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden.

Auch wenn der Arbeitgeberverband Gesamtmetall zunächst über einen Umsatzausfall von zwölf Milliarden D-Mark klagt, wirkt sich der Streik wirtschaftlich dann doch nicht ganz so verheerend aus. Die Automobilhersteller profitieren von der steigenden Auslandsnachfrage und produzieren bereits einen Monat nach Streikende zehn Prozent mehr als vor dessen Beginn.

Das Wir-Gefühl der Lautrer Mannschaft hat diese Episode eher gestärkt als geschwächt, und auch über die Werksgrenzen hinaus demonstriert sie Solidarität. Als im Jahr darauf in Brasilien 85.000 Beschäftigte der Automobilindustrie in den Ausstand treten, ruft der Pfälzer Betriebsrat um seinen Vorsitzenden Paul Schleicher zu einer großen Spendenaktion für die Kollegen in Südamerika auf.


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1988 baut die Pfalz bereits ihren 2.000.000. Motor: Fürs Erinnerungsfoto posieren Roland Dowerk (Qualitätssicherung), Rolf Becker (Firma Meffert), Werkdirektor H.P. Klein, Klaus Sassos (Industrial Engineering), Rudolf Utsch und Karl Schuff (beide Qualitätssicherung) mit dem Jubilar (v.l.n.r.).

 


LAUTERN BLEIBT LAUTER:
DIE MANNSCHAFT IST DER STAR

Die Erfolgsgeschichte des Standorts geht weiter. Und der berufliche Weg des Experten für Zeit- und Arbeitsstudien führt bald darauf nach Jerez de la Frontera – in das besagte Führungskräfteseminar, auf den 20 Meter hohen Mast.

Wie er sich entschieden hat, nachdem er oben, auf dieser winzigen Plattform stehend, zunächst einmal zögerte? Er ist natürlich gesprungen. 1995 wird Volker Wild Leiter der Familie II-Motorenproduktion.

Zuvor jedoch geht in Lautern eine Ära zu Ende. 1989 tritt Heinrich Peter Klein seinen Ruhestand an. 19 Jahre lang hat er die Geschicke des Standorts als Werkdirektor geleitet, so lange wie kein anderer bislang. Im Gedächtnis geblieben sind seinen Mitarbeiter viele seiner Aussagen, besonders eine von 1984, anlässlich seines 60. Geburtstages: „In diesem Unternehmen hat man keine Chance, wenn man sich als Star fühlt – man muss sich stets in die Gruppenarbeit einbinden.“

VV I

Im Vorschlagswesen sind die Pfälzer besonders aktiv: 1982 darf der erst 20-jährige Motorenbauer Harald Walz (r.) die damalige Höchstprämie 50.000 D-Mark für einen Verbesserungsvorschlag entgegennehmen.

 


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Die besten Verbesserer des Jahres 1987 – Interessant, wie viele von ihnen auch viele Jahre danach noch den Standort prägten: Opel-Vorstandsmitglied Dr. Walter Schlotfeld mit Hans Walter Schollmaier, Siegfried Hartwig, Alfons Leßmeister, Thomas Preis, Herbert Eberle, Peter Klein, Manfred Hawener und Reinhardt Koltzer.

 


Die Operation am offenen Ölkännchen

von Arnold Littig


Arnold Littig war Ausbilder in der Opel-Lehrwerkstatt. In den 1980er Jahre erlebte er diese Episode.

In meinen Berufsjahren habe ich bestimmt über 1.000 Azubis betreut. Dabei stellt man immer wieder fest, dass im Umgang mit jungen Leuten Fingerspitzengefühl gefragt ist. Einmal war es das sogar im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein angehender Dreher –  heute würde man sagen Zerspanungsmechaniker mit Fachrichtung Drehen – stand plötzlich vor mir, hilflos, ratlos und mit schmerzverzerrtem Gesicht: Sein rechter Zeigefinger steckte im Schraubverschluss eines Ölkännchens, ganz tief. Wie der da rein geraten war, ist mir bis heute nicht so ganz klar. Der Junge hatte mit dem Öl eine Anlage reinigen sollen. Ich vermute, dass er seinen Finger als Messstab in das Kännchen tauchen wollte, um zu prüfen, wie viel Öl er noch zur Verfügung hatte. Und nun bekam er ihn nicht mehr raus.

Obendrein war der Schraubverschluss sehr scharfkantig, so dass jeder Versuch, den Finger aus der Öffnung herauszuzerren, nur noch mehr Schmerzen bereitete. Bevor der arme Kerl zu mir kam, hatte er sich schon eine ganze Zeit lang in einer Ecke herumgedrückt und versucht, sich allein aus der misslichen Lage zu befreien. Er ahnte natürlich, dass sich seine Kameraden vor Lachen ausschütten würden, sobald er sein Malheur publik machen würde.

 

Jetzt aber wusste er nicht mehr weiter. Und ich war gefragt. Ich klemmte das Ölkännchen in einen Schraubstock, griff mir das Blatt einer Metallsäge und machte mich daran, den Schraubverschluss vom Kännchen zu säbeln.

Ganz vorsichtig. Die Säge um den Rand herum führend und ständig neu ansetzend, um meinen Patienten nicht zu verletzen. Und unter den Augen des kompletten Azubi-Jahrgangs, der sich um uns herum gescharrt hatte und sich blendend amüsierte. „Wohlgemeinte“ Ratschläge, den Finger doch einfach zu amputieren, überhörte ich geflissentlich – wer den Schaden hat, braucht eben für den Spott nicht zu sorgen.

Schließlich hatte ich den Knaben von dem Ölkännchen befreit. Nun zierte den Finger aber noch ein etwa ein Zentimeter breiter Metallring. Den nahm ich mir mit einem Seitenschneider vor. Das war erneut Millimeterarbeit. Als ich fertig war, waren wir beide schweißgebadet. Aber der Ring war ab, der Finger zwar nicht mehr ganz unversehrt, immerhin aber noch dran. Und der Rest meines „Patienten“? Aus dem wurde ein guter Dreher, der noch viele Jahre in Opel-Diensten blieb. Den Namen behalte ich aber für mich. Ich bin sicher, dass er nie wieder einen Finger in ein Ölkännchen gesteckt hat.

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Text: Eric Scherer, Fotos: privat, Opel Archiv